Karsh of Ottawa, das war über Jahrzehnte der Gipfel der Porträtkunst und heute gehört der Fotograf selbst zu den Legenden, die er während seines Lebens auf Film gebannt hat. Menschen aus Wissenschaft, Politik und Kultur wurden von ihm „gekarsht“, wie es Marshall Montgomery nannte. Kein anderer hat das Innere des Menschen in all seinen Facetten mit beeindruckenderer Lichtführung an die sichtbare Oberfläche gebracht.
Gewinn eines Wettbewerbs und Ausbildung
Yousuf Karsh, ein Armenier, wurde am 23. Dezember 1908 in Mardin, einer Stadt im Osmanischen Reich, der heutigen Türkei, geboren. Als 14-jähriger wurde er von seinen Eltern wegen der Verfolgung durch die Türken und zum Ziele der Absolvierung einer besseren Ausbildung zu einem Onkel nach Kanada geschickt. Seinen ursprünglichen Berufswunsch Mediziner zu werden, musste er wegen fehlender Sprachkenntnisse und den damit verbundenen Ausbildungsdefiziten aufgeben. Während er noch zur Schule ging, bekam er von seinem Onkel, der auch Fotograf war, eine Kamera, eine Kodak Brownie, geschenkt. Zu Weihnachten machte er von einer Landschaftsaufnahme einen größeren Abzug, um diesen einem Schulfreund zu schenken. Der reichte das Foto bei einem Wettbewerb ein und Karsh gewann dadurch den 1. Preis und bekam 50,– $. Dem Freund gab er 10,– $ und 40,– $ schickte er seinen Eltern in die Heimat. Für sich selbst entschied er, sich von nun an intensiver mit der Fotografie zu beschäftigen.
Mit 18 Jahren ging Karsh nach Boston, um dort bei John H. Garo, der sich dem porträtieren von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gewidmet hatte, eine Ausbildung zu machen. Vormittags wurde fotografiert und Nachmittags empfing Garo Menschen aus der Literatur- und Kunstszene, um mit ihnen über die Themen dieser Welt zu diskutieren. Karsh lauschte und lernte. Garo fotografierte viele Schauspieler der Bostoner Theater. In diesen Theatern studierte Karsh das Bühnenlicht. Diese effektvolle Ausleuchtung beeindruckte ihn und er verfeinerte sie zu einem nuancenreichen fotografischen Instrument, das er im Verlauf seiner Karriere in absoluter Meisterschaft spielte.
Fotoregie und Technik
Entscheidend für die Porträts von Karsh, die so viel Inneres von den Porträtierten ans klug gesetzte Licht bringen, ist seine Vorbereitung auf die Aufnahmesession und die Kommunikation mit den Modellen. Er hatte stets Kenntnis von deren Vorlieben und Erlebnissen. Das war die Basis seiner Gespräche mit denen er höflich, elegant oder bestimmend seine Modelle in Stimmungen versetzte, um die Reaktionen im Bild festzuhalten. Peter Hurley, ein New Yorker Fotograf, vermittelt mit seiner Headshot-Photography ein vergleichbares Vorgehen. Bezüglich der Vorbereitung erzählt Karsh z.B. von seinem Shooting mit Hemingway, der mit dem Barmann des La Floridita Club in Havanna auf Kuba den Daiquiri, einen Cocktail, verfeinerte und sehr schätzte, folgendes: „Als ich bei Hemingway ankam und wir die obligatorischen Nettigkeiten zu Beginn eines Treffens ausgetauscht hatten, verschwand Hemingway in der Küche und rief: „Karsh, was wollen Sie trinken?“. Ich antwortete ohne lange zu zögern: „Einen Daiquiri.“ „Mein Gott, um diese Tageszeit?!“ schoss Hemingway darauf zurück. Zu viel Vorbereitung kann also auch zum Bumerang werden.“
Neben der Fotoregie war die Aufnahme- und Verarbeitungstechnik ein weiteres Kriterium der imposanten Porträts. Wenn man die Fotos von Karsh betrachtet, fällt einem auf, dass er überwiegend mit härterem Licht arbeitete, was sicherlich seiner Zeit und dem vorhandenen Equipment geschuldet ist. Er benutzte mittelgroße bis große Reflektoren und manchmal Diffusionsfolien, um das Reflektorlicht weicher zu machen. Häufig setzte er, für die Zeit eher unüblich, Effektlicht zur Trennung vom Hintergrund oder zur Modulation der Gesichtszüge ein. Da er seine Fotomaterialien selbst oder mit Hilfe eines Assistenten im eigenen Labor verarbeitete, ist davon auszugehen, dass er individuelle Entwicklungen seiner 8 x 10 Inch (20 x 25 cm) Negative durchführte, um den Partialkontrast in den Mitteltönen steuern zu können. Speziell bei markanten, männlichen Persönlichkeiten, wie z.B. bei seinem Porträt von Fidel Castro, ist der Mitteltonkotrast extrem hoch. Bei einem Besuch einer Karsh-Fotoausstellung im Jahre 1989 in Frankfurt, die zu Ehren seines 80. Geburtstags von 1988 bis 1989 auch in London, Paris, Genf und Zürich stattfand, bekam ich die teilweise 60 x 75 cm großen Originalprints zu Gesicht. Selten hat mich das Œuvre eines Künstlers so beeindruckt. Was Ansel Adams in der Landschaftsfotografie erreicht hatte, war hier in der Porträtfotografie auf gleicher Stufe zu sehen.
„Vom Heiligen zur Sünderin“
So begrüßte Brigitte Bardot den Fotografen zum Shooting, nachdem sie erfahren hatte, dass er gerade Papst Johannes XXIII. fotografiert hatte. Von den einflussreichen Menschen des 20. Jahrhunderts hat Karsh den Großteil fotografiert. Politiker, Schauspieler, Musiker, bildende Künstler, Schriftsteller, Monarchen sowie Staats- und Regierungschefs saßen oder standen vor ihm, um sich fotografieren zu lassen. Die Liste ist umfangreich und beinhaltet so Namen wie Pablo Casals, John F. Kennedy, Sophia Loren, George Bernard Shaw, Helen Keller, Konrad Adenauer, Mohammed Ali, Humphrey Bogart, Marc Chagall, Albert Einstein, W. H. Auden, Königin Elizabeth II., Carl Jung, Anna Magnani, Joan Baez, Norman Mailer, Andy Warhol, Thomas Mann, Henry Moore, Georgia O’Keeffe, Herbert von Karajan, Mies van der Rohe, Margaret Thatcher, Kurt Weill, H. G. Wells, Pablo Picasso, John Steinbeck, Albert Schweitzer oder Edward Steichen. Es könnte jetzt noch einige Absätze so weitergehen, die Liste vermittelt aber auch in ihrer Unvollständigkeit den Umfang der fotografischen Hinterlassenschaft des großen Porträtfotografen.
Karshs Arbeiten, die heute in allen bedeutenden Museen der Welt zu finden sind, umspannen einen Zeitraum von fast sieben Jahrzehnten und sind in diversen Bildbänden dokumentiert. Da ich immer auf der Suche nach ergänzenden Informationen bin, ersteigerte ich irgendwann das unten abgebildete Heft mit dem Artikel „Karsh fotografiert Berühmtheiten“. Dieser Beitrag konnte nicht vom Besitz des Heftes profitieren. Trotzdem ist es interessant, wie sich das Empfinden von Fotografie auch hier dem Zeitgeist angepasst hat. Das Heft stellt aber eher eine kuriose Fundsache dar.
Einen wirklich guten Einblick in die Arbeit von Yousuf Karsh bekommt man in dem Film „Karsh: The Searching Eye“ von Harry Rasky. Dort sieht man unter anderem ein Shooting mit Bernstein, Karsh in der Dunkelkammer, viele historische Filmaufnahmen und der Mann, der so oft mit seinen Augen gefunden hat, erzählt wundervoll aus seinem ereignisreichen Leben, das am 13. Juli 2002 endete.
Vom Countrystar zum Fotografen
Eine kleine Anekdote aus der fotografischen Welt möchte ich im Zusammenhang mit Karsh noch loswerden. Kenny Rogers, Troubadour der Country-Musik (Ruby, The Gambler) fotografierte immer schon gerne. Er wollte, falls sein Stern am Country-Himmel mal sinken sollte, fotografieren. Von seiner Frau bekam er zu Weihnachten einen persönlichen Workshop bei John Sexton, einem ehemaligen Assistenten von Ansel Adams, geschenkt. Bald erschien sein Buch Kenny Rogers‘ America. Hier veröffentlichte er Landschaftsfotos, die in Ihrer Art stark an seinen Lehrmeister und an dessen ehemaligen Arbeitgeber erinnern.
Nach einer Lehrzeit bei Yousuf Karsh erschien dann 1987 sein Buch „Your Friends and Mine“ und es ist nicht zu verheimlichen, wer in der Porträtfotografie sein Lehrmeister war. Rick Sammon zitiert Rogers in einem seiner Bücher wie folgt: „Karsh hat mir beigebracht, wie man die Persönlichkeit einer Berühmtheit einfängt. Er sagte: „Du sprichst mit ihnen und sorgst dafür, dass sie sich wohl fühlen. Achte immer auf ihre Augen und sei jederzeit schussbereit. Wenn sie völlig entspannt sind, dann drückst Du ab.““