In der vergangenen Woche war ich Gast beim Unternehmerabend der Wirtschaftsförderung Gelsenkirchen. Die Veranstaltung fand im Stadion des FC Schalke 04 statt. Der Laola-Club in der Arena füllte sich schnell mit über 300 Besuchern, die dort auf Informationen zu den neuesten Entwicklungen im wirtschaftlichen Sektor der Stadt, zum Traditionsverein Schalke 04, eine Führung durch die Arena und ein abschließendes Beisammensein zum Kennenlernen sowie zum Gedanken- und Informationsaustausch warteten.
Sobald die Veranstaltung mit den ersten Reden ihren Lauf nahm, schnellten die ersten Handys in die Höhe und es wurde fotografiert, was das Zeug hält. Olaf Thon wurde nicht nur direkt am Rednerpult abgelichtet sondern es wurden auch die Monitore im ganzen Club fotografiert, auf denen sein Konterfei während der Rede übertragen wurde. Ich fragte mich, ob die Menschen, die dies taten, ihre Lieblingsfußballer zu Hause auch auf dem Fernseher fotografieren. Gleichzeitig überlegte ich, ob sie ihr Handy vor den Computerbildschirm halten auf dem gerade ein Video-Stream läuft oder ob sie Reproduktionen von Torszenen, die in der Fußballfan-Bravo (Kicker) abgedruckt sind, anfertigen.
Während die Reden und die Handymanie fortschritten, nahm ich den Fotografen wahr, der mit der Dokumentation der Veranstaltung von Seiten der Wirtschaftsförderung beauftragt war. Er versuchte, Stimmungen einzufangen, zusammenstehende Gruppen zu finden, das Erlebnis dieses Events wiederzugeben und all dies mit Blickwinkeln, bei denen auch die Logos des Veranstalters und des Fußballvereins eine Rolle spielen. Er begab sich auf Treppen, um eine Sicht von oben zu bekommen und achtete darauf, die Verantwortlichen und die Wichtigen in eine Datei zu schreiben.
Die Führung entfachte den totalen Handywahnsinn
Als dann die Reden, die das Herz jedes Fußballfans höher schlagen ließen, verklungen, ging es mit sogenannten „Guides“ zur Führung in Gruppen durch die Arena. Menschen, die früher auf einem Film Weihnachten, Geburtstag der Kinder, Hochzeitstag, Zoobesuch und das nächste Weihnachtfest untergebracht hatten, fotografierten nun, als gäbe es kein Morgen. Hunderte von Fotos wurden mit jedem Handy produziert.
Zwischen den ganzen Handy-Belichtern gab es noch ein paar vereinzelte Menschen, die mit einer Spiegelreflexkamera fotografierten und sich auch schon mal Zeit für ein Motiv nahmen, soweit das die Führung in zig Gruppen zuließ. Ich versuchte, bei allen Fotografierenden einen Blick auf deren Display zu erhaschen und sah völlig unterschiedliche Sichtweisen. Ich möchte keine Wertung über die unterschiedlichen Qualitäten der Fotos abgeben, denn ich glaube, dass ein Vergleich wegen der unterschiedlichen Intentionen, die jeder Fotografierende hatte, eigentlich unmöglich ist.
Eine Steigerung der Absurdität war nicht mehr möglich
Während der Führung kamen wir ins Allerheiligste jedes Vereins und in das Wunschziel jedes Fußballfans – die Spielerkabine. Da wurden leere Bänke, Kleiderbügel und Spiegel fotografiert. Da entstanden Fotos von Mülleimern und dem obligatorischen Spielszenenmonitor für die Analyse der ersten Halbzeit. Erstaunlicherweise entstanden zumindest in meinem Beisein keine Selfies. Die Fotofängerei erreichte jedoch ihren Höhepunkt, als man anfing, die Toiletten im Kabinenbereich zu fotografieren. Hier verrichteten die Spieler also ihre Notdurft. Als großem Musikfan dachte ich darüber nach, ob ich bei einer Besichtigung der Westfalenhalle die Toiletten in der Garderobe der auftretenden Künstler fotografieren würde, weil die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß wäre, dass Bob Dylan da schon mal reingepinkelt hätte. Dies konnte ich mir selbst mit einem klaren „NEIN“ beantworten. Zumindest brachte dies mich auf die Idee, diesen Beitrag zu verfassen.
Die abschließenden Gespräche auf der Veranstaltung gingen dann wieder entschärfter zu und die Arbeit von Schalke Catering wurde von allen Seiten hoch gelobt.
Drei Gruppen von Fotografierenden
Was war da geschehen? Was geschieht fast immer, wenn auf größeren Veranstaltungen unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Art und Weise fotografieren? Was geschieht grundsätzlich, wenn unterschiedliche Intentionen zur Fotografie führen?
Es gibt drei Gruppen von Menschen, die mit Hilfe eines Aufnahmegeräts Fotos erstellen. Da ist zunächst die breite Masse von Knipsern (dies ist nicht abwertend gemeint, es ist nur ein Name für diese Gruppe), die, vorwiegend mit ihrem Handy, Erinnerungen einfangen. Da ist größtenteils weniger die fotografische Ambition im Vordergrund, sondern das Festhalten in einem Bild für eine Geschichte aus einem bestimmten Lebensabschnitt. Meist durch Zufall entstehen hier auch schon mal Fotos, die auch professionellen Ansprüchen genügen.
Die zweite Gruppe sind die engagierten Amateure, die sich stärker bis intensiv mit der Fotografie auseinandersetzen. Viele unterscheiden sich nur von den Profis, weil sie nicht von ihren Fotos leben müssen. Eine ganze Reihe von ihnen hat sich, wie die Profis, auf bestimmte Genres der Fotografie spezialisiert und beide können ihre Ziele mit irgendeinem Aufnahmegerät erreichen.
Die Profis bilden die dritte Gruppe. Sie setzen sich berufsbedingt mit ihrem Sujet auseinander. Sie planen Aufnahmesessions, buchen Models und Locations, entwerfen Aufbauten für eine Produktaufnahme, akquirieren und pflegen Kundenkontakte, reisen zu Aufnahmeorten, machen ihre Buchführung, etc.
Das Bild, das in der Öffentlichkeit von Fotografierenden existiert, ist aber weitaus weniger differenziert. Da sind das alles Fotografen. Die Marketingabteilungen der Fotoindustrie schüren diese Verallgemeinerung ständig. Wären sie auf der Höhe der Zeit, hätten sie längst erkannt, dass der Familienvater, der seine Neugeborenen mit dem Handy fotografiert, nur einen Schnappschuss für das virtuelle oder reale Fotoalbum machen möchte, eine Erinnerung an die Zeit, als das Baby noch ganz klein war. Der hat keine fotografischen Ambitionen, weil er in seinem richtigen Leben einem anderen Beruf nachgeht und als Hobby dem Marathonlauf frönt. Es gibt da bestimmt den einen oder anderen, der beginnt, Fotografie interessant zu finden, und anfängt, sich mit dem Medium intensiver zu beschäftigen. Das sind aber sicherlich die Wenigsten. Vor allem – sie bleiben beruflich hauptsächlich in ihren Bereichen.
Viel schlimmer ist die Vereinheitlichung aller Fotografierenden im Hinblick auf die Wertigkeit des Fotografierens. Durch den Masse-statt-Klasse-Effekt wird die Beurteilung der Qualität von Fotografie verändert. Laut Aussagen der Werbestrategen kann schließlich jeder ein Foto erstellen. Dem widerspreche ich in jeglicher Form. Jeder kann einen Schnappschuss machen, ein Foto zu erstellen ist etwas anderes.
Fotografie ist ein hohes kulturelles Gut, das viele Menschen mit unterschiedlichen Intentionen nutzen können – vom Schnappschuss bis zum Foto. Zumindest die Fotografierenden wissen, zu welcher Gruppe sie gehören.
Das Beitragsfoto wurde übrigens von einem zwölfjährigen Mädchen erstellt.